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Intendanten

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Gottfried Haass-Berkow
(1933-1953)

Autor: Friedhelm Röttger

Ein Originalbeitrag anlässlich
des 100-jährigen Jubiläums 2019

Die schillernde Persönlichkeit und die komplexe Biographie des Intendanten Gottfried Haaß-Berkow, der in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit (1933-1953) die WLB wie vielleicht kein anderer geprägt hat, hat bisher noch keine hinreichende Beschreibung gefunden, die auch sein Wirken in Esslingen auf dem Hintergrund der Zeiten von deutscher Diktatur und demokratischem Neubeginn ausführlich darstellt. Aufgrund dessen werden im Folgenden Facetten von Haaß-Berkows Person und Werk anhand von verschiedenen Auszügen der vorliegenden Forschungsliteratur vorgestellt.
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“Wer in der Geschichte des deutschen Theaters die Geschichte der Seele sieht und aufsucht, muß von tiefer Wehmut erfüllt werden, daß ein Künstler wie Gottfried Haaß-Berkow sich aus dem tätigen Kunstleben zurückzieht. Es ist nicht die übliche Übertreibung einer Gedenk- und Feierstunde, daß ich im Wirken Haaß-Berkows einen ideellen Höhepunkt der modernen Schauspielkunst überhaupt sehe:

Wir kamen 1918 halb ertaubt aus den Materialschlachten und gewahrten mit einigem Entsetzen, daß der Krieg ein Raffer- und Schiebertum gezeitigt hatte, welches dem Tanz um das goldene Kalb huldigte. Aber gerade in der Wirrnis der (sinnlosen) Kämpfe gegen die Träger der westlichen Kultur war in vielen Menschen eine Sehnsucht nach der Stille und der Einfachheit gewachsen, wie sie Gauguin zur Flucht in die Südsee getrieben hatte. Dieses Sehnen fand keine Erfüllung in den Krämpfen und Übersteigerungen des „expressionistischen“ Dramas, das in Deutschland mit dem Kriegsende wild aufflackerte, obwohl hier zweifellos die Forderung des Geistes gegen trockenen Realismus rebellierte.

In dem Chaos von spartakistischem Bürgerkrieg, Putschen, Verzweiflung, Not und Inflation geschah ein großes Wunder: wirklich schien die Spielgemeinschaft junger bedingungslos opferbereiter Studenten, die sich um den begeisterten Künstler Haaß-Berkow geschart hatte, dem eine Wunderblume, der von der routinemäßigen Nüchternheit vieler Theaterbetriebe so angewidert war wie Haaß-Berkow selbst.”
(Carl Niessen, Leiter des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Bonn, in „Festschrift zum Abschied von Gottfried Haaß-Berkow, 1953“).
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In Stuttgart am 12.5.1888 geboren, wuchs Gottfried Haas (so sein Geburtsname) in Österreich auf, da sein Vater, ein Chemiker, seit 1889 in Linz eine Lackfabrik besaß. Seine Schulausbildung setzte er zwischen 1902 und 1907 in Deutschland fort. Noch vor dem Abitur ging er als Eleve an das Landestheater Linz. Die Berufsentscheidung war durch das Vorbild seines Schwagers Max Gümbel-Seiling beeinflusst.

Nach Beendigung der Ausbildung 1909 wurde er an das Stadttheater St. Pölten engagiert, musste es aber bereits 1910 wegen einer schweren Lebenskrise wieder verlassen. Er suchte neue Wege und ging nach Hellerau, unter Jaques Dalcroze seit 1909 ein Zentrum lebensreformerischer Bewegungen. Nach Unterricht in der Dalcroze-Gymnastik und der Engel-Lehre, einer Reformbewegung für Sprachgestaltung, zog er mit seiner späteren Frau, Irma von Gürgens, 1911 nach Berlin. Hier fand die Begegnung mit Rudolf Steiner statt. Seit 1913 war er als Lehrer für Sprecherziehung und Stimmbildung an der Bühnenschule des „Deutschen Theaters“ angestellt. In dieser Zeit legte er sich den zweiten Namen „Berkow“ zu.

Der Sommerkongress 1913 in München mit den Aufführungen der Mysteriendramen und die Aufführungen der „Oberuferer Weihnachtsspiele“ im Winter 1913 in Berlin gaben ihm Richtung für seinen Weg, den er seit 1914 ein-schlug: Aufführung von „Mysterienspielen des deutschen Mittelalters“, hervorgegangen aus Anregungen Rudolf Steiners. Zwischen 1915 und 1918 führte er mit so genannten „Spielkreisen“ Stücke auf wie die „Oberuferer Spiele“, das „Redentiner Osterspiel“, „Theophilus“ etc. Das wichtigste Stück wurde 1916 uraufgeführt: „Der Totentanz“. Die Resonanz auch in der Fachwelt führte zur Formulierung von neuen Theateransätzen: „Neue Richtungslinien für die Schauspielkunst“ (1919). Hier verarbeitete er Hinweise, die Steiner im Zusammenhang mit der Aufführung der „Mysterienspiele“ gegeben hatte.

Auf dem Hintergrund des Endes des Ersten Weltkriegs entfaltete sein „Totentanz“ immer größere Breitenwirkung, öffentliche Theater griffen Themen und Spielweise auf. 1919 entstand in Thüringen seine zunächst semiprofessionelle Theatertruppe, die „Haaß-Berkow-Spiele“. Der Auftritt dieser Truppe auf dem ersten Wandervogeltag nach dem Krieg in Coburg 1919 löste die schwärmerische Begeisterung der Jugendbewegung für sein Theater aus, das er „Laientheater“ oder „Laienspiele“ genannt hatte, um auf den Charakter des unverbildeten Spielers hinzuweisen. Das Laienspiel der Jugendbewegung stand zu-nächst völlig unter dem künstlerischen Einfluss von Haaß-Berkow. Zahlreiche Spieler aus den Reihen der Jugendbewegung fanden den Weg zu seiner Truppe und durch ihn zur Anthroposophie. Andererseits fanden Spieler aus der Truppe den Weg zum herkömmlichen Theater (beispielsweise Werner Finck, Claus Clausen u. a.), vor allem aber zur Bühne am Goetheanum (Bevan Red-lich, Georg Kugelmann, Hans Schmidt, Gertrud Hörner u. a.).

Bis 1924 befand er sich mit Spielen auf Tournee durch ganz Deutschland, ab 1923 auch im Ausland (Niederlande, Schweiz, Baltikum, Finnland). Das Repertoire hatte sich erweitert, Shakespeare und Goethe waren hinzugekommen. 1921 formulierten er und seine Truppe Fragen an Rudolf Steiner zur Weiterentwicklung der Sprech- und Schauspielkunst, 1924 löste er seine Spiele auf, um in Dornach am „Dramatischen Kurs“ (GA 282) teilnehmen zu können.

Danach übernahm er das Stadttheater Gelsenkirchen für zwei Jahre und versuchte, die Anregungen des Kurses in die praktische Tätigkeit zu überführen. Schiller, Grillparzer, Goldoni, Raimund, Gorki u. a. waren die aufgeführten Autoren. Er kehrte 1926 nach erneuter Auflösung seines Ensembles an das Goetheanum zurück. Da er dort im Ensemble keinen gesicherten Platz fand und aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten, griff er 1927 seine „Haaß-Berkow-Spiele“ wieder auf. Bis 1933 führte er auf Tourneen vor allem durch Deutsch-land, um das Zugpferd „Totentanz“ herum, Stücke von Claudel, Albert Steffen u. a. auf. Sowohl in Sprache, Inszenierung wie in Beleuchtung und Bühnenbild versuchte er dem nahe zu kommen, was er als Bemühung um anthroposophisch inspiriertes Theater empfand.
(Andreas Kaufmann, https://biographien.kulturimpuls.org)
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Stark war die Wirkung durch schlichte Innerlichkeit. Die Spieler standen fern von den handwerklichen Traditionen des Berufsdarstellers. So blieben sie, da sie nie etwas anderes sein wollten als begeisterte Laien, in einem Stadium lebendigen Werdens, das ungewöhnlich stark auf die Zuschauer wirkte. Man dachte mitunter an lebendig gewordene mittelalterliche Plastiken oder frühe Holzschnitte. Die Spieler bewegten sich zwischen den Polen herzlicher Einfalt und manchmal tänzerischer Grazie. Da sie keine großen individuellen Virtuosenleistungen anstrebten, gaben sie sich als einfache menschliche Typen, was nicht hinderte, daß gelegentlich ein starkes Temperament diesen Rahmen sprengte.
(Carl Niessen, Neue Deutsche Biographie 7, Onlinefassung, S. 384)
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Am 11. September 1933 wurde dann im Stuttgarter Kultusministerium die Württembergische Landesbühne ins Leben gerufen. Vorsitzender des Vorstandes wurde der Oberbürgermeister der Stadt Esslingen, Alfred Klaiber. Nun suchte man einen Intendanten, der künstlerische Qualitäten besaß und bereit war, mit einem kleinen Etat auszukommen. Haaß-Berkow schien der geeignete Mann. Er nahm die Stelle an, weil sie ihm materielle Sicherheit gab. An 62 Spielorten in Württemberg und Hohenzollern – von Tettnang bis Mergentheim, von Heidenheim bis Liebenzell – war die Württembergische Landesbühne zu sehen. Ab 1937 konnte auch in Bregenz und Feldkirch gespielt werden. Ab 1940 fanden Gastspiele in der Slowakei und Abstecher im Rahmen der Truppen- und Lagerbetreuung in Frankreich statt. Letztere wurden durch das Reichspropagandaministerium finanziert. Die Aufführungen im Ausland sollten zeigen, was Deutschland selbst während des Krieges noch an Kultur bieten konnte.

Doch war die Zeit unter der nationalsozialistischen Herrschaft für Haaß-Berkow nicht leicht. Schon seine Berufung zum Intendanten stieß auf Widerstand. Am 4. August 1933 sprachen sich Gauwart Klemme aus Stuttgart und Oberschul-rat Kimmich aus Esslingen gegen ihn aus. Angeblich seien mehrere Schauspie-ler gegen den neuen Mann, da er keine eindeutig positive Einstellung zur NSDAP habe. Haaß-Berkow erwähnt in einem Brief an Klaiber am 12. Februar 1934 diese Vorwürfe. Er sieht die Ablehnung weniger politisch, sondern als Machenschaften einzelner Schauspieler, die mehr Macht haben wollten. Ortsgruppenleiter hätten aus persönlicher Verbundenheit zu diesen Schauspielern die Bestrebungen gegen ihn unterstützt. Klaiber stellte sich hinter seinen In-tendanten. Daraufhin schrieb Klemme mehrere Male an das Reichspropagandaministerium in Berlin. Seit Juni 1934 war nach dem Theatergesetz Joseph Goebbels Theaterminister und die Reichstheaterkammer für alle Theaterfragen zuständig. Klemme schlug den Berliner Stellen die Gründung eines eigenen „Kraft durch Freude“-Theaters vor. Gegen Haaß-Berkow wurde angeführt, daß er Anthroposoph war und nicht Mitglied der NSDAP. Eine Antwort aus Berlin auf dieses Schreiben liegt nicht vor. Hinter den Intendanten stellten sich neben Klaiber auch das Kultusministerium und der württembergische Ministerpräsi-dent Mergenthaler.

Der Landesverbandsvorsitzende des Reichsverbandes der deutschen Presse in Württemberg, Karl Overdyck, schrieb an die Zentralstelle der deutschen Bühne, daß die von Haaß-Berkow aufgeführten Stücke beste deutsche Überlieferung seien: „Den Stil, den Haaß-Berkow gefunden hat, möchten wir in dieser Beziehung als vorbildlich ansprechen. Besonders das, was er im Sinne vollen-deter Sprachgestaltung geschaffen hat, möchten wir an dieser Stelle besonders betonen … In einer Zeit, als es schwer war, wirklich deutsche Kunst zu pflegen, hat Haaß-Berkow mit seiner Truppe dies in offenkundigster Weise getan. Die Anerkennung deutschbewußter Kreise … ist ihm immer zuteil gewor-den.“ Overdyck spricht in diesem Schreiben vom 9. Mai 1935 die Hoffnung aus, daß durch seine Vermittlung dem Intendanten die Möglichkeit gegeben werde, seine künstlerischen Leistungen in Ruhe ausreifen zu lassen. Am 17. Juni 1935 bestätigte Otto Laubinger, der Präsident der Reichstheaterkammer, daß sich Haaß-Berkows Aufführungen ganz im deutschen Geist und im Sinne einer fruchtbaren Kulturerneuerung vollzögen.

Haaß-Berkow mußte in der Auseinandersetzung mit Klemme Zugeständnisse machen und sich immer wieder gegen die Angriffe zu Wehr setzen, denn er war auf die Geldzuschüsse des Gauamtes angewiesen. Er ging ebenfalls Kompromisse in Personalfragen ein. So zum Beispiel im Oktober 1934. Klemme versuchte, den Regisseur Hellmund und den Schauspieler Speidel am Esslinger Theater unterzubringen. Haaß-Berkow schrieb zunächst an Klaiber, daß er für die beiden Herren keine Verwendung habe. Doch zum 1. November 1934 wur-de Hellmund eingestellt. Laut Haaß-Berkow war er kein Parteimitglied und so-mit tragbar. Das Verhältnis der beiden war dann jedoch äußerst schwierig. Hellmund verlangte Mitspracherecht bei der Spielplangestaltung. Im Frühjahr 1935 konnte sich Haaß-Berkow durchsetzen. Nachdem er sich bei der Reichstheaterkammer abgesichert hatte, entließ er den Regisseur. Vertraulich teilte er in diesem Zusammenhang Klaiber mit, daß er in Berlin einen weiteren Erfolg verbuchen konnte. Man werde Klemme nahelegen, daß er sich nicht in die künstlerischen, personellen und wirtschaftlichen Dinge der Landesbühne einmischen solle, weil dies nicht zu seinem Aufgabenkreis als Gauwart gehöre. Ähnliche Auseinandersetzungen gab es bei Einstellung anderer Schauspieler, eines neuen Geschäftsführers und bei der Terminabsprache von Vorstellungen. 1938 bewarb sich Haaß-Berkow um die Mitgliedschaft in der NSDAP, die abgelehnt wurde.

Haaß-Berkows Theaterverständnis
Haaß-Berkow legte bei seiner Regieführung großen Wert auf die Sprache und auf eine gute Aussprache. Nach Aussagen von Schauspielern, die unter seiner Regie gespielt haben, wird deutlich, daß Haaß-Berkow einem klassischen, werkgetreuen Theater mit großer Betonung der Sprache verpflichtet war. Dies führt er auch in Schriften über die Inszenierungsweise an. Daneben nennt er die Bedeutung der Bewegung der Schauspieler auf der Bühne. Sie sollten sich möglichst natürlich bewegen.

Das Reich, aus dem der Schauspieler seine Erscheinungen empfange, sei – so Haaß-Berkow – das der Phantasie, des Urgrundes des Daseins. Er sei überzeugt, daß eine dramatische Dichtung nur darstellbar sei, wenn es dem Schauspieler und Regisseur gelänge, sich ganz und gar in Charakter und Situation zu vertiefen. Für Haaß-Berkow war auf der Bühne das Leben auf ein höheres Niveau gehoben. Er sah das Theater als Pforte der Erkenntnis, die Bühne als moralische Anstalt im Sinne Schillers und Lessings. Wenn auch zu seiner Haltung während des Dritten Reiches viele Fragen offen bleiben, wird jedoch deutlich, daß Haaß-Berkow, aus seiner anthroposophischen Auffassung heraus, ein unpolitischer Mensch war, für den eine eindeutige Trennung zwischen Kunst und Politik bestand.

Es läßt sich nicht mehr exakt nachweisen, welche Stücke zwischen 1933 und 1944 aufgeführt wurden. Nimmt man einmal die Stücke, die von der jeweiligen Spielzeit bekannt sind, dann wurden ungefähr ¼ Klassiker, etwas über ¼ Komödien und ¼ Stücke zeitgenössischer Autoren gegeben. Diese Aufteilung gilt in etwa für die gesamten Spielzeiten, auch während der Kriegszeit. Auffallend ist die Dominanz deutschsprachiger Autoren. „Ihr kennt ja alle die Schwäche der Schwaben für Klassiker“ – hieß es in einem Rundschreiben an die inzwi-schen eingezogenen Schauspieler. Damit waren vor allem Schiller und Goethe gemeint. Wilhelm Tell, Wallenstein, Faust werden in den Rezensionen als große Theaterereignisse gefeiert. Komödien und Lustspiele waren sehr beliebt. Im November 1933 schrieb Klaiber an Haaß-Berkow, daß die große Nachfrage nach leichter Unterhaltung verständlich sei, da die Menschen im Alltag Schweres durchmachten. In der Spielzeit 1937/38 zeigte man Oscar Wildes Komödie „Lady Windermers Fächer“, was natürlich sofort Kritik hervorrief. Haaß-Berkow widerlegte den Vorwurf der Dekadenz des Wilde-Stückes. In Deutschland bestünde ein Mangel an guten Lustspielen, deshalb müsse man auf Stücke nichtdeutscher Autoren zurückgreifen. Es gehöre zu den Aufgaben der Zeit, gerade die Andersfarbigkeit des Denkens und Fühlens hervorragender Dichter anderer Völker zu zeigen. Wilde trage keine Dekadenz in sich, er bekämpfe sie, denn die Helden seiner Stücke seien die verantwortungsvollen Menschen. Die Kritik kam von Gerhard Schumann, seit 1935 Vorsitzender des Vorstands, der auch die Ämter des Kulturreferenten, den Gaukulturhauptstellenleiters der NSDAP sowie des Kulturreferenten der SA Gruppe Südwest innehatte. In sei-nen Stücken, die auch in Esslingen zur Aufführung kamen, verherrlichte er den nationalsozialistischen Staat. Während des Krieges wurde das Theater-spielen immer schwieriger: Schauspieler waren eingezogen und es gab Probleme beim Transport. Doch es wurde versucht, so lange wie möglich zu spielen.

Am 1. September 1944 wurde auf Verfügung von Goebbels auch die Württembergische Landesbühne geschlossen.
(Vera Kretschmer, Esslingen 1919-1949. Von Weimar bis Bonn. Die Württembergische Landesbühne)
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Sommer 1945. Der Krieg ist zu Ende, die Theater sind noch geschlossen. Dann erhält die Verwaltung der Württembergische Landesbühne Esslingen am 26. Juni 1945 ein Schreiben des „Gouvernement Militaire Allemagne“, „Detachement d’Esslingen“. Adressat ist „l’Intendant du Theatre d’Esslingen“, Gottfried Haaß-Berkow, der bis zu diesem Zeitpunkt die WLB von 1933 an mit Umsicht und großem diplomatischen Geschick durch schwierige Jahre geführt hat. Der Ton ist höflich, comme il faut. Der Sieger und Befreier, Mitglied der alliierten Streitmächte, verliert nicht die Contenance: „J’ai l’honneure de vous informer …“ – „Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass Sie befugt sind, das Esslinger Theater wiederzueröffnen …“ Die WLB reagiert am 15. Juli 1945 auf das Ende des Kriegs und die Wiedergewinnung der Bühnenkonzession mit einer festlichen „Morgenfeier“, die unter dem programmatischen Motto steht: „Künstlertum – Menschentum“. Rezitiert werden Texte von Goethe, Schiller, Lessing, Hölderlin, Claudius und Morgenstern; dargeboten Kompositionen von Bach, Beethoven, Haydn, Brahms und Leclair. Am folgenden Tag spielt die WLB „Clarissa“ (bekannt als „Miss Sara Sampson“), das bürgerliche Trauerspiel von Gotthold Ephraim Lessing.

Wenig später, am 28. Juli 1945, erfolgt die Zulassung durch die jetzt zuständige amerikanische Militärregierung. Nach eingehender Überprüfung befinden die Amerikaner Haaß-Berkow als einen unpolitischen Intendanten. Er ist einer der Wenigen überhaupt, der sowohl vor, als auch nach 1945 ein Theater leiten darf. Somit erhält die Württembergische Landesbühne als erste westdeutsche Bühne das Recht, mit voller Unterstützung durch die Siegermächte den Spiel-betrieb wieder aufzunehmen. Allerdings verliert infolge der Abtrennung Südwürttembergs durch die französische Zonengrenze die WLB einen Teil ihres ehemaligen Spielgebiets. Ersatzweise erfolgt die Gründung des Landestheaters Tübingen (LTT).

Man darf zwar wieder Theater spielen, aber im „Hungerwinter“ 1946/47, dem kältesten seit Jahrzehnten, rauchen auf der Bühne Kanonenöfen; für Heizmaterial sorgen die Zuschauer: Holzscheite und Briketts anstelle von Eintrittsgeld. Viele der ehemaligen Spielstätten in Württemberg sind zerstört, so dass die WLB zunächst nur die Nachbarstädte bespielt. Zudem leidet ein großer Teil des Ensembles an Unterernährung. Und weil der Beruf des Schauspielers landläufig als wenig anstrengend gilt, sind die Kalorienzuteilungen entsprechend knapp bemessen. Dennoch wundert, führt man sich die Bilanz jener Jahre vor Augen, die stattliche Anzahl der Vorstellungen: 1945/46 allein 298; künstlerischer Höhepunkt ist Thornton Wilders sozialkritisches Schauspiel „Unsere kleine Stadt“. „Ausgezeichnete schauspielerische Kräfte aus verschiedenen Teilen Deutschlands“ verstärken das Esslinger Ensemble in der Spielzeit 1946/47, die bereits 437 Vorstellungen aufweist, darunter Stücke von Schiller („Turandot), „Gaslicht“ von Patrick Hamilton, Kleists „Nathan der Weise“, Tolstois „Der lebende Leichnam“ und „Der Tod im Apfelbaum“ von John Osborne, in Deutschland erstmals in Esslingen aufgeführt. Es handelt sich „um typisch amerikanisches Theater“, schreibt die Stuttgarter Zeitung in ihrer Ausgabe vom 19. April 1947, „eine warme, Leben atmende Darstellung menschlicher Charaktere, in dem der Tod Sieger und Befreier des Menschen bleiben“ müsse.

Im Jahr 1948 eröffnet die WLB ihre bis heute fortdauernde Tradition der sommerlichen Freilichtspiele, die mal vor der mittelalterlichen Kulisse vor St. Dionys und dem Kesslerhaus, mal unter dem Dach der Maille-Bäume ausgetragen werden. Die Annalen der WLB verzeichnen nicht nur die Stücke, die zwischen den Jahren 1948/49 und 1953/54 aufgeführt wurden, sondern auch die Besucherzahlen: „Der Widerspenstigen Zähmung“ (Shakespeare), 4.282 Besucher; „Egmont“ (Goethe), 6.001 Besucher. Des Weiteren Goethes „Götz von Berlichingen“, Hauptmanns „Schluck und Jau“ und Goldonis Komödie „Der Lügner“. Buchstäblich ins Wasser fällt die Aufführung von Kleists „Käthchen von Heilbronn“. Ein verregneter Sommer, und entsprechend mager fällt die Bilanz mit nur 1.810 Besuchern aus.

Aufgrund der aufgezählten Stücke könnte der Eindruck entstehen, dass im Spielplan der Landesbühne die Klassiker tonangebend sind. In Wirklichkeit überwiegen unterhaltende Stücke und Komödien: In den „Trümmerjahren“ sucht das Publikum Ablenkung von den Problemen des Alltags. Einen großen Einschnitt in das Esslinger Theaterleben verursacht die Währungsreform vom 20. Juni 1948. Die langen Schlangen vor den Theaterkassen bleiben plötzlich aus; die Vorstellungen sind „katastrophal schlecht“ besucht; Mitglieder des Ensembles wandern ab. Dennoch stimmen am Ende der Spielzeit 1947/48 „die Schauspieler sogar einer Herabsetzung ihrer Bezüge zu, um ihr Theater vor Schlimmerem zu bewahren“ (Vera Kretschmer). Und Fritz Landenberger, seit dem 1. September 1945 Esslinger Oberbürgermeister und wesentlich beteiligt an den Verhandlungen mit der amerikanische Besatzung über die friedliche Übergabe der Stadt, appelliert im November 1948 an die Bevölkerung: „Jedem Esslinger sollte es eine Ehrenpflicht sein, im Laufe der nächsten zwei Monate mindestens einmal das Theater zu besuchen. Das Theater wird es Euch danken. Helft mit, es Euch selbst zu erhalten.“ Landenbergers Appell verhallt nicht ungehört; die Esslinger und mit ihnen viele Abonnenten in den Abstecherorten bleiben ihrer Landesbühne treu.

1953 übergibt Gottfried Haaß-Berkow nach zwanzigjähriger Tätigkeit als Intendant die Leitung der Württembergische Landesbühne an seinen Nachfolger Wilhelm List-Diehl. „Der Abschied von so vielem, das einem Menschen lieb und teuer werden kann, fällt mir gewiss nicht leicht“, schreibt er in einem Brief „An alle Freunde unserer Bühne!“ „Doch weiß ich, dass das Werk steht und Be-stand haben wird auch in der Zukunft. Meine guten Wünsche begleiten alle, die im gleichen Sinne sich bemühen, in dem ich selber wirken durfte.“ Rudolf Kleemann fasst Haaß-Berkows Verdienste zusammen: „Seine hohe Auffassung von der Kunst, in der ihn die Begegnung mit Rudolf Steiner wesentlich be-stärkte, und sein verantwortungsbewusstes Können leben in denen fort, die einstmals unter ihm lernten und arbeiteten, die heute in dankbarer Erinnerung noch von seiner genialen, ganz auf das Gehör abgestimmten Wortregie erzählen.“
Er nutzt seinen Ruhestand, “um zahlreiche Vorträge über Schauspielkunst und Sprachgestaltung zu halten. Auf einer solchen Vortragsreise ereilte ihn (1957) in Winterthur der Tod, den er so unzählige Male, bald dämonisch, bald gütig verkörpert hatte.“ (Carl Niessen, Neue Deutsche Biographie 7, Onlinefassung)

„Ein jähes Ende eines reichen Lebens“. Eindrucksvoll ist die Schilderung von Karin Haupt, einer ehemaligen Mitarbeiterin von Haaß-Berkow, wenn sie in einem Nachruf schreibt: „Ein Zauber“ ging aus „von seiner beweglichen Gestalt, von seinem edlen Gesicht und der mächtig geformten Stirn und den leuchtenden blauen Augen. Sein ebenso kraftvolles wie liebenswürdiges Wesen, von genialem Schwung befeuert, überstrahlte und belebte seine Umwelt. Man nannte ihn scherzhaft (…) einen ‚Rattenfänger von Hameln‘. Aber er führte die Jugend nicht in eine dunkle Berghöhle, sondern in die Helligkeit der in ihnen neu geweckten Fähigkeiten.“

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